Die Verweigerung des Rechtsstaats – Deutschland am Ende seiner juristischen Kräfte
Deutschland hat ein Problem, das längst nicht mehr abstrakt ist: Die deutsche Justiz kollabiert, und mit ihr droht der Kern des Rechtsstaats zu zerfallen. Es sind nicht nur Zahlen oder Statistiken – es sind Menschen, die fehlen. Richter:innen, Staatsanwält:innen, junge Volljurist:innen – schlicht der Nachwuchs, der diese Institutionen am Leben erhält. Bis 2029 werden über 7.000 Richter und Staatsanwälte regulär in Pension gehen. Demgegenüber stehen durchschnittlich rund 1.800 Prädikatsjurist:innen pro Jahr, die den qualifizierten Ersatz liefern könnten. Selbst wenn alle dieser Top-Kandidaten gewonnen werden könnten – ein unrealistisches Szenario – bliebe kaum Spielraum für alle übrigen Aufgaben und Herausforderungen. Die Rechnung geht einfach nicht auf.
Die Folgen sind bereits heute sichtbar: überlange Verfahren, überforderte Richter:innen, gestresste Staatsanwält:innen und ein Berg von Akten, der wächst, während die Personaldecke schrumpft. Immer häufiger werden Verfahren eingestellt – nicht, weil kein Verbrechen begangen wurde, sondern weil die Justiz schlicht keine Kapazitäten mehr hat. Das Recht auf Gerechtigkeit wird verweigert, oft still und unscheinbar, aber mit gravierenden Folgen für Bürger:innen, Opfer und das Vertrauen in den Rechtsstaat.
Dabei geht das Problem weit über die Opfer hinaus. Auch Angeklagte haben ein Recht auf Anschluss ihres Verfahrens. Niemand darf jahrelang warten müssen, bis ein Verfahren abgeschlossen wird. Gerade Jugendliche, die in Jugendstrafverfahren stehen, leiden besonders unter der Verzögerung: Entweder nehmen sie fälschlicherweise an, dass „nichts passiert“ und setzen ihr riskantes Verhalten fort, oder die endlosen Wartezeiten ziehen sie in Depressionen, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Die Überlastung der Gerichte trifft damit nicht nur die Opfer, sondern auch die Angeklagten und die Gesellschaft insgesamt.
Bund und Länder wollen 2.000 neue Stellen schaffen. Ein ehrgeiziges Ziel, das aber allein keine Lösung ist. Schon jetzt müsste die Justiz über 80 Prozent aller Prädikatsjurist:innen gewinnen, um nur den normalen Ersatzbedarf zu decken. Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen – niedrige Gehälter, hohe Belastung, bessere Perspektiven in Verwaltung, Wirtschaft oder Anwaltschaft – ist das schlicht unmöglich. Die Politik produziert damit eine Pseudo-Lösung, die am Kernproblem vorbeigeht: Es gibt schlicht zu wenige qualifizierte Jurist:innen, um das System aufrechtzuerhalten.
Was bedeutet das für die Bürger:innen? Rechtsstaatliche Grundsätze verlieren ihre Wirkung. Verfahren ziehen sich über Jahre hin, Verjährungsfristen laufen ab, Täter bleiben ungestraft, Opfer bleiben ohne Rechtsschutz, und Angeklagte dürfen nicht auf rechtzeitige Verfahren hoffen. Der Staat kann seine Kernfunktion, die Garantie von Recht und Ordnung, nicht mehr erfüllen. Und er weiß es – reagiert aber kaum. Die Justiz wird langsam zur Farce, während Politiker:innen von „Modernisierung“ und „Digitalisierung“ reden, als ließe sich menschliches Kapital durch Software ersetzen.
Das ist keine abstrakte Bedrohung, das ist die Verweigerung des Rechtsstaats. Wer Aktenberge anhäuft, Verfahren endlos verzögert und Top-Jurist:innen nur unter Mühe oder gar nicht für den Staatsdienst gewinnen kann, verweigert den Bürger:innen ihr Recht auf Schutz, Sicherheit und fairen Prozess – und verletzt gleichzeitig die Rechte der Angeklagten, die Anspruch auf ein zügiges Verfahren haben.
Es ist höchste Zeit, diese Realität auszusprechen. Wer den Rechtsstaat will, darf nicht länger Personalengpässe, Überalterung und Nachwuchsmangel ignorieren. Reformen müssen konsequent, strukturell und mutig angepackt werden – sonst wird Deutschland in wenigen Jahren einen Rechtsstaat haben, der nur noch auf dem Papier existiert. Und das kann niemandem gefallen.